„Vom glaubenden Gedächtnis, zum Gedächtnis des Glaubens“ Bericht der 33. Jahrestagung des ND-Arbeitskreis „Naturwissenschaft und Glauben“ vom 30.6.-2.7.2017 im Salmünster
Hinter der Formulierung „vom glaubenden Gedächtnis“ stand die Idee, neue Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gedächtnisses zu erfahren aber mit Fokus darauf, in welcher Weise das Gedächtnis „glauben“ braucht bzw. „Glauben“ ermöglicht. Mit dem Begriff „Gedächtnis“ ist im neurologischen Sinne zunächst die Fähigkeit des Nervensystems von Lebewesen gemeint, aufgenommene Informationen zu kodieren, zu speichern und wieder abzurufen, oft auch als Erinnerungsvermögen bezeichnet. Die gespeicherten Informationen sind das Resultat bewusster oder unbewusster Lernprozesse, zu denen in geringerem Maße auch primitivere Nervensysteme von Tieren befähigt sind. Komplexität und Umfang möglicher Gedächtnisleistungen haben im Lauf der Evolution bis hin zum Menschen zugenommen. Sie dienen den Lebewesen dazu sich in ihren jeweiligen Lebensräumen zurechtzufinden und ihre Lebensweisen zu stabilisieren.
„Gedächtnis“ (Gedenken) bezeichnet im gesellschaftlichen Sinne aber auch den bewussten Umgang mit Vergangenheit und Geschichte, die sogenannte Erinnerungskultur. Sie wird in Familien, Vereinen, politischen Institutionen und nicht zuletzt in den Kirchen als wesentlicher Bestandteil des Glaubens gepflegt. Darauf bezog sich der zweite Teil des für diese Tagung gewählten Themas „Gedächtnis des Glaubens“. Inwieweit solche kollektive Gedächtnisformen in der Lage sind, größeren Gruppen der Gesellschaft Orientierung und stabilisierende Identität zu verschaffen, war eine der Fragen, die sich diese Tagung gestellt hatte.
Grundlagen der Gedächtnisforschung (Einführung)
In der Einführung wurden die neurologisch erkannten Gedächtnisarten vorgestellt. Das sogenannte Ultrakurzzeitgedächtnis, umfasst die kaum bewussten, sensorischen Gedächtnisse, die unsere Sinnesorgane unterstützen. Erst sie ermöglichen in einen oft nur Millisekunden dauernden Aufbau, dass ein ganzes Bild, ein ganzes Wort, Gerüche, Geschmacks- oder Temperaturempfindungen ausgebildet werden. Diese werden dann im besser bewusste Kurzzeitgedächtnis zugeordnet, benannt und registriert, soweit sie Mustern, Merkmalen, oder Worten entsprechen, die im Langzeitgedächtnis abrufbar gespeichert waren.
Das mit dem Bewusstsein besonders interagierende Kurzzeitgedächtnis ist dabei nur ein notizblockartiger Zwischenspeicher, der im Mittel nur 5-9 Informationseinheiten gleichzeitig für meist weniger als 1 Minute aufnehmen kann. Diese Beschränkungen lassen sich mit einfachen Tests erkennen. Die Teilnehmer wurden dazu aufgefordert zwei 5-stellige Zahlen aufzuschreiben und dem Nachbar nur 10 Sekunden lang zu zeigen. Nach einer Pause von 20 Sekunden in der man zur Erschwerung auch noch eine Langzeit-memorierte Zahl, z.B. die Postleitzahl seines Wohnortes, aufschreiben kann, sollten die beiden gelesenen 5-stelligen Zahlen wieder notiert werden. Den meisten ungeübten Personen gelingt das nicht. Durch optimiertes Training lassen sich die 3 unterschiedlichen Gedächtnisformen aber so miteinander verbinden, dass der Weltrekord für die in 5 Minuten memorierte und anschließend wiedergegebene Ziffernfolge bei 501 steht.
Das für solche Leistungen oft als fotografisch oder eidetisch bezeichnete Gedächtnis ist die Fähigkeit das in dieser fotografischen Weise arbeitende, visuelle Ultrakurzzeit-Gedächtnis länger zu erhalten. Die darin geübten Gedächtnisse weisen dazu verbesserte Neuroplastizität und erhöhte emotionale Aufmerksamkeitspotentiale auf. Davon zu unterscheiden ist die von Gedächtnisprofis oft genutzte primäre Form des Langzeitgedächtnisses, die sich durch assoziative Memorierungsstechniken (z.B. loci-Methode) optimieren lässt.
Die sekundären bzw. lebenslang gespeicherten tertiären Langzeitgedächtnisinhalten werden u.a. im episodischen Gedächtnis mit Fakten und Ereignisse, die zur eigenen Biographie gehören, gespeichert. In Fällen von personaler Amnesie, wird dieses episodische Gedächtnis gelöscht oder vorübergehend unzugängig, während ein Großteil des semantischen Gedächtnisses erhalten bleibt, in dem sogenanntes Weltwissen eines Menschen, wie berufliche Kenntnisse, Fakten aus Geschichte, Politik und Kultur abgespeichert sind.
Während diese Gedächtnisinhalte durch bewusste, explizite Lernprozesse aufgebaut werden, sind die im prozeduralen Gedächtnis gespeicherten Fertigkeiten, Ergebnis impliziter unbewusster und unbeabsichtigter Lernprozesse. Zu diesen in der Regel auch automatisch, ohne Nachdenken eingesetzten motorischen Abläufe gehören u.a. Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren sowie große Teile des Sprachvermögens. Die dazu nötigen impliziten Lernprozesse können schon im frühen Kindesalter ablaufen, auch wenn wir uns im späteren Leben nicht mehr mit Bewusstsein daran erinnern können, weil die dazu nötigen Voraussetzungen (z.B. zeitlich und örtliche Zuordnung) bis zum Alter von etwa 3 Jahren erst aufgebaut werden müssen.
Während das Abrufen von Gedächtnisinhalten (erinnern) genauso wie das abspeichern (kodieren) am besten im aufmerksamen Wachzustand funktioniert, ist für die Erhaltung und Konsolidierung von Gedächtnisinhalten neben bewusstem Rekapitulieren und Einordnen der Schlaf von essentieller Bedeutung. Wie umfangreiche Forschungsprojekte gezeigt haben, geschieht vor allem in traumlosen Tiefschlafphasen eine Umorganisation von Gedächtnisinhalten die entscheidend für deren langfristiges Erlernen und Erinnern sind. Die Forscher nehmen an, dass auch bei erwachsenen Tieren wie beim Menschen das Gehirn während Tiefschlafphasen besonders plastisch ist, es dann Gelerntes besser neuzuordnen und festzuschreiben vermag.
Das evolutiv optimierte Gedächtnis (Hauptreferat)
Besonders der intensiven Zusammenarbeit von Philosophie und Hirnforschung ist es zu verdanken, dass sich aus den immer besser erforschten Gedächtnisleistungen in den letzten Jahren auch differenziertere Vorstellungen darüber ergeben, wie und warum sich diese in der Tierwelt bis hin zum Menschen entwickelt haben. Ein Beispiel dafür ist die in Heidelberg begonnene Kooperation des Philosophen Martin Gessmann mit der bekanntesten deutschen Neurobiolologin Hannah Monyer (u.a. Leibniz-Preisträgerin von 2004). Resultate dieser Kooperation kann man u.a. dem 2015 gemeinsam publizierten Buch „Das geniale Gedächtnis“ entnehmen. Prof. Gessmann, der inzwischen an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach lehrt, hat die für die AK-Tagung wichtigsten Aspekte den fast 40 Teilnehmern im Kloster Salmünster vorgestellt.
Das Gedächtnis dient nach seinen Worten keineswegs nur der Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Vielmehr hilft es uns, sich in der Gegenwart zu orientieren und den besten Weg in die Zukunft zu beschreiten. In jedem Moment wird das Gedächtnis mit neuen Eindrücken, Erfahrungen und Erkenntnissen überhäuft und gestaltet sich nach geeigneten Regeln und Gewichtungen entsprechend um.
Die Wissenschaft beschreibt die zugehörige Leistungsfähigkeit mit der sogenannten Neuroplastizität. Gemeint sind damit sowohl funktionelle Änderungen in den Synapsen, den neuronalen Zellverbindungen, als auch strukturelle Änderungen einzelner Neuronen bis hin zur Zellgenese. Der bisherige Gedächtniszustand wird dabei teils überschrieben und neugeordnet. In gewissem Umfang werden dabei in allen Bereichen der Erinnerungen Teile vergessen oder in neue Zusammenhänge gesetzt. Schon daher kann es in keinem Erinnerungsbereich eine objektiv festgeschriebene Geschichte geben.
Das wurde noch offensichtlicher mit zunehmenden Belegen dafür, dass Erinnerungen erst durch emotionale Kopplungen realisiert und stabilisiert werden, d.h. unvermeidlich nehmen mit der Zeit, subjektiv selektierte Erinnerungslücken und -umdeutungen zu. Selbst schwer demente Menschen können sich deshalb an emotional berührende Melodien und Texte erinnern, allerdings auch an traumatische Erlebnisse.
Langfristig beeinflussen emotional gekoppelte Erinnerungen die Selbsteinschätzung von Einzelmenschen, aber auch die von ganzen Gesellschaften und Kulturen. Sie bildet mehr oder weniger den „roten Faden“ ihrer Existenz. Aus Sicht der Evolution des Menschen gilt, dass auch mit der speziellen Form des Erinnerns ähnlich wie für andere Organe eine optimierte Basis zu einer Art-erhaltenden Zukunft gefunden wurde.
Die neuen Erkenntnisse zur Arbeitsweise unseres Gedächtnisses führten aus Sicht von Prof. Gessman auch dazu, dass die moderne pädagogische Forschung Lernmethoden entwickelt, die auf emotional fundierte Aufmerksamkeit, Motivation und eine dazu passende Lernumgebung achtet. Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Lernen ist dabei vor allem die personale Bezogenheit und narrative Einbettung von Inhalten. Daran knüpfen auch viele sogenannten „Mnemotechniken“ wie z.B. die am längsten bekannte Loci-Methode an.
Am Ende seines Vortrags ging Gessmann noch einmal speziell auf das Tagungsthema ein und bestätigte, dass die hohe Bedeutung emotional berührender Erinnerungen, ein wesentlicher Grund für die religiöse Orientierung des Menschen bereits mit frühsten historischen Funden und Aufzeichnungen gewesen seien. Das gelte auch für die Entwicklung der jüdisch-christliche Religion, die sich durch die sehr emotionale Art der meist erst Generationen später aufgezeichneten Geschichte, eine sowohl nationale wie religiöse Identität geschaffen habe. Der christliche Glaube lebe wesentlich aus dem Gedächtnis an das Leben Jesu, das in emotionalen Geschichten überliefert sei und bis heute in emotional ausgerichteten Riten gefeiert werde.
Erinnerungskultur als Basis einer gemeinsamen Identität (Impulse)
Nachdem die Tagung sich in Anschluss an das Hauptreferat zunächst in kleineren Kreisen u.a. mit der Optimierung und der Erkrankung von Gedächtnissen auseinandergesetzt hat, wurde am Nachmittag aus der Sicht verschiedener Impulse versucht, sich die Bedeutung der Erinnerung für den Aufbau von Identität und Zukunftsgestaltung bewusst zu machen.
Hierzu gehörte ein sprachlicher Impuls, der aus der Wortbedeutung und Herkunft der Wörter eine Idee von Ziel und Zweck von Erinnerungskultur und Gedächtnispflege gab. Ein zweiter Impuls versuchte ausgehend von der Bedeutung des Gedächtnisses als des notwendigen Instrumentes der Orientierung und der Sozialbeziehung zwischen Menschen herzuleiten, wie weit es möglich ist, von einem kollektiven Gedächtnis und einer gemeinsamen Identität zu sprechen. Als zentrales Beispiel hierzu gilt die Umsetzung des Ziels, die jüngeren deutschen Geschichte im kollektiven Gedächtnis auch zukünftiger Generationen zu erhalten.
In einem dritten Impuls wurde versucht, am Beispiel von Zielsetzung und Erinnerungskultur in Heliand und ND darzustellen, in welchem Umfang sich eine eigenständige Identität dieser beiden Verbände entwickeln konnte, bzw. vielleicht gerade wegen der Überalterung bis heute erhalten hat. In einem abschließenden Impuls wurde die Frage der Entwicklung einer eigenen Identität sogar auf das Selbstverständnis des Arbeitskreises „Naturwissenschaft und Glaube“ selbst übertragen. Angesichts immer neuer Erkenntnisse und neuer Techniken, sich in Grundfragen des Glaubens und der Ethik immer wieder neu Orientierung zu verschaffen, gehört seit der Gründung vor mehr als 30 Jahren zur Motivation und speziellen Identität des AKs.
Das gilt insbesondere für die Spiritualität, die angesichts von weltbildlicher Neuorientierung auch eine Weiterentwicklung der geistigen Dimension bedarf, was soweit nötig auch im Gottesdienst der Tagung erkennbar werden soll. Davon war auch das gewählte Thema „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ nicht ausgeschlossen. Die großen Veränderungen im historischen Jesusbild, wie auch in der rituellen Form des gefeierten Gedächtnisses, zeigen, dass es nie um einen objektiv festgeschriebenes Gedächtnis ging und dass Dogmen immer nur den historischen Rahmen einer bestimmten Zeit widerspiegelten. Gerade die Erkenntnis der emotionalen Kopplung von Gedächtnisinhalten sollte deutlich machen, dass religiöse Wahrheiten schon immer subjektiver Natur waren und sich daher auch für das kollektive Gedächtnis des Glaubens keine vermeintliche Objektivität, sondern einfach nur Glaubwürdigkeit anzustreben ist.